4. Zusammenarbeit – Bund und Länder, europäische Städte, österreichische Zivilgesellschaft, Selbstorganisation
Die Herausforderungen der Erstaufnahme und Integration können nur bewältigt werden, wenn staatliche Behörden auf allen Ebenen innerhalb Österreichs eng kooperieren. Die föderale Aufgabenteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden sowie die Bewegungsfreiheit der aus der Ukraine Vertriebenen schaffen jedoch auch nicht intendierte Anreize für Behörden, die spontane Übernahme von Verantwortung zu vermeiden, um nicht auf Kosten „sitzen zu bleiben“ oder die Weiterleitung von Geflüchteten aus anderen Gemeinden und Bundesländern zu stimulieren. Dazu kommt auch die Notwendigkeit für die Stadt Wien, die Agenden der unterschiedlichen betroffenen Magistratsabteilungen eng auf einander abzustimmen. Wir sind daher der Meinung, dass neben dem von der Bundesregierung eingesetzten Ukraine-Flüchtlingskoordinator auch ein/e Wiener Koordinator*in sinnvoll wäre, vorausgesetzt diese/r hätte ausreichendes Pouvoir, sowohl für die Stadt Wien gegenüber dem Bund mit einer Stimme zu sprechen als auch intern die Maßnahmen der Stadt zu koordinieren.
Als Arrival City ist Wien ein besonders attraktiver Niederlassungsort, da neu hinzukommende Menschen hier ein engmaschiges Netz an Unterstützungsstrukturen (persönliche Netzwerke, Zivilgesellschaft, städtische Angebote) vorfinden. Wien ist, wie bereits bei früheren Migrationsbewegungen, daher stärker gefordert als andere Regionen in Österreich. Im Gegensatz zu 2015 scheint die Stadt aber zurückhaltender in der Bereitschaft zur Hilfestellung zu sein. Im föderalen System Österreichs ist derzeit zu beobachten, dass die fehlende Klarheit bei Finanzierungsfragen zur Erstankunft und Betreuung vor der Grundversorgung, sowie bei schwierigen Fällen (z.B. Menschen mit besonderen gesundheitlichen Bedürfnissen) zu einem Hin- und Herschieben der Verantwortlichkeit zwischen Bund und Ländern, sowie unter den Bundesländern kommt. Die Klärung von Verantwortlichkeiten ist vordringlich, da in der Zwischenzeit immer neue Probleme und Versorgungsmängel entstehen. Im Sinne eines menschenwürdigen Umgangs mit den zumeist in Wien ankommenden Geflüchteten ist die Stadt gefordert, hier die Überbrückung von Lücken in den Zuständigkeiten finanziell und personell sicherzustellen.
Die Aushandlung der Verteilung von Verantwortlichkeiten, Kompetenzen, Geldern und weiterer Ressourcen zwischen Wien und dem Bund, beziehungsweise zwischen den Bundesländern stellt erneut eine zentrale Herausforderung dar. Hier könnte die jetzige Situation auch Schwung in die Neuaushandlung bestimmter Zuständigkeiten im Sinne der Subsidiarität bringen. Die föderal organisierten Bereiche Kindergarten und Pflichtschule sind aufgrund der demographischen Zusammensetzung der Geflüchteten besonders gefordert. Es gilt auch abseits von Wien die notwendigen Angebote (Kinderbetreuung, aber auch Möglichkeiten zum Besuch weiterführender Schulen, etc.) sicherzustellen. Der erhöhten Belastung Wiens muss aber durch eine entsprechende Ressourcenverteilung zwischen den Bundesländern Rechnung getragen werden.
Da in Österreich die Massenzustromrichtlinie über das Asylgesetz implementiert wird, gelten die Regelungen betreffend Grundversorgung und bevölkerungsbezogene Aufteilung in den Bundesländern. Der Bund übernimmt 60% der Kosten der Grundversorgungssätze, die Bundesländer 40%. Weiters sind aufgrund der demographischen Situation - hoher Anteil von Kindern und Jugendlichen - höhere vom Bund refundierte Tagsätze für die infrastrukturelle Versorgung erforderlich.
Für Wien als Aufnahmestadt kann die Zusammenarbeit mit anderen europäischen Städten ein sinnvoller Weg zur besseren Bewältigung aktueller Herausforderungen sein. Städtepartnerschaften mit deutlich stärker geforderten Städten in Europa (z.B. Warschau, Berlin) ermöglichen den Austausch über “best practices”, aber auch eine bessere Vorbereitung auf möglicherweise entstehende sekundäre Migration aus diesen Städten nach Wien. Informationsaustausch und Kooperation erleichtert für die Stadt die Vorbereitung auf Neuankünfte und hilft, Überforderung durch unvorhergesehene Massenankünfte zu vermeiden. Eine gut organisierte Ankunft stellt auch die beste Voraussetzung für längerfristige Integrationsprozesse dar.
Im Hinblick auf die Situation vor Ort nach Ende der Kriegshandlungen in der Ukraine sollte eine Wiederaufbaupartnerschaft mit einer ukrainischen Stadt angedacht werden. Die Stadt Wien kann hier eine koordinierende Rolle bei der Beschaffung von Hilfsgütern und der Organisation von Rückwanderung übernehmen.
Die österreichische Zivilgesellschaft hat, wie schon im Jahr 2015, große spontane Hilfsbereitschaft bewiesen. Diese zeigt sich nicht nur in Geld- und Sachspenden, sondern auch bei der Bereitstellung privater Quartiere und im unermüdlichen Einsatz von Nichtregierungsorganisationen und freiwilligen Helfer*innen. Eine der größten Herausforderungen ist es, dieses hohe Niveau der Solidarität über einen längeren Zeitraum aufrecht zu erhalten. Dazu bedarf es der materiellen Unterstützung seitens der Stadt Wien ebenso wie der öffentlichen Anerkennung. Besonders wichtig ist jedoch die Einbeziehung der Nichtregierungsorganisationen, die durch ihren humanitären Einsatz die wichtigste Informationsquelle über die Bedürfnisse der Geflüchteten und Schwachpunkte in der Organisation der Hilfeleistungen sind, in deren Planung. Für die psychosoziale Unterstützung von privaten Quartiergeber*innen und Helfenden, die sich über/belastet fühlen, braucht es eine zentrale (ggf. virtuelle) Ansprechstelle und Austauschmöglichkeiten.
Humanitäre Hilfe läuft stets Gefahr, die Empfänger*innen als passive Opfer zu begreifen und Abhängigkeiten zu erzeugen. Daher ist die Unterstützung der Selbstorganisation der Geflüchteten und die enge Zusammenarbeit mit dem bereits bestehenden Netzwerk ukrainischer Vereine und Organisationen in Wien von besonderer Bedeutung.