3. Erstaufnahme, temporärer Schutz, langfristige Niederlassung

 

Der für die meisten Ankommenden vorerst geklärte rechtliche Status erleichtert die Situation für die vertriebenen Menschen, aber auch für jene, die in die Betreuung involviert sind.

Die EU-Massenzustromrichtlinie bietet ukrainischen Geflüchteten vorübergehenden Schutz für die Dauer von einem Jahr. Abhängig von der Entwicklung in der Ukraine verlängert sich dieser Status um je zweimal sechs Monate. Durch einen qualifizierten Mehrheitsbeschluss des Rats der Europäischen Union könnte er auf drei Jahre ausgedehnt werden. Jene Menschen, die dauerhaft in Österreich bleiben und sich eine neue Heimat aufbauen wollen, müssen frühzeitig und umfassend über die Möglichkeit einen Asylantrag zu stellen und/oder den Zugang zu alternativen Aufenthaltstiteln wie der Rot-Weiß-Rot Karte informiert und dabei unterstützt werden. Ebenso gilt es, Vertriebene bei der gesetzlich vorgesehenen, halbjährlichen Verlängerung ihres temporären Schutzstatus zu unterstützen. Da anzunehmen ist, dass nach Ablauf von zwei bzw. drei Jahren eine große Zahl von Menschen gleichzeitig eine alternative Aufenthaltsperspektive benötigen wird, sollte sich das österreichische Parlament schon jetzt mit Lösungen befassen, die nicht nur in Einzelfällen einen sicheren Verbleib in Österreich ermöglichen. Dabei könnte auf Erfahrungen aus dem Umgang mit Bosnienflüchtlingen, die in den 1990er-Jahren ebenfalls zunächst nur temporären Schutz erhielten, zurückgegriffen werden. Das Signal einer längerfristigen Perspektive in Österreich ist wichtig, um sowohl Geflüchtete als auch österreichische Institutionen für Integrationsbemühungen zu motivieren.

Für den Zugang zum österreichischen Arbeitsmarkt benötigen ukrainische Geflüchtete zusätzlich eine Beschäftigungsbewilligung durch das Arbeitsmarktservice (AMS). Diese muss so rasch und unbürokratisch wie möglich erteilt werden, damit etwaige Jobangebote auch wahrgenommen werden können. Geflüchtete und österreichische Arbeitgeber*innen müssen sich auf kurze Fristen und transparente Bewilligungsverfahren verlassen können. Können Qualifikationen im Gastland über eine längere Zeit nicht genutzt werden, so kann dies auch Nachteile bei der Wiedereingliederung in der Heimat haben. So etwa kann es zu einem „Abbau des Humankapitals” kommen, also dem Verlernen von beruflichen Fähigkeiten und Fertigkeiten, und einem nachhaltigen Absinken der Erwerbsmotivation, die nicht ebenso rasch wieder ansteigt, wenn zu einem späteren Zeitpunkt Arbeit gefunden wird (Marbach et al., 2018).

Mit Erhalt des Ausweises für Vertriebene (sog. „Blaue Karte“) ist die Grundversorgung verbunden, und zwar für die gesamte Dauer des Aufenthalts in Österreichs, da kein Aufstocken auf die höhere Mindestsicherung vorgesehen ist. Es zeigt sich bereits, dass die Höhe der Grundversorgung – so wie für andere Geflüchtete auch – für viele ukrainische Familien nicht ausreicht, um auf Dauer in Österreich davon leben zu können. Vor allem die Wohnungssuche (nach Aufenthalt bei privaten Quartiergeber*innen oder in Notunterkünften) stellt Familien vor eine große finanzielle Herausforderung. Gleichzeitig sind Betroffene durch die Zuverdienstgrenze bei Beschäftigung in ihren Einkommenschancen noch weiter beschränkt. Eine Aufhebung der engen Zuverdienstgrenzen für alle Geflüchteten würde ihre Lebenssituation und Integration deutlich verbessern. Anzudenken wäre die Zuerkennung der höheren Mindestsicherung statt der niedrigen, nicht existenzsichernden Grundversorgung. Dabei ist im Sinne des Gleichheitsgrundsatzes sicherzustellen, dass jede Erhöhung der Leistungen in der Grundversorgung bzw. Anhebung der Zuverdienstgrenze für Asylwerbende genauso gilt wie für Vertriebene aus der Ukraine.

Während die unmittelbare Ankunft und Erstversorgung in Wien durch die zentralen Stellen des Humanitären Ankunftszentrums in der Sporthalle in der Engerthstraße (organisiert von der NGO Train of Hope) und das Registrierungszentrum im Austria Center Vienna (ACV) (organisiert von städtischen Stellen, FSW in Kooperation mit Caritas, Diakonie, …) gut organisiert sind, scheint der weitere Prozess nach Registrierung und Erhalt des Ausweises für Vertriebene weit weniger begleitet. So sind etwa ein Drittel der derzeit rund 600 Tagesgäste im Humanitären Ankunftszentrum Erstankünfte und zwei Drittel Folgebesuche (Stadt Wien, 2022). Letztere erfolgen teilweise durch Personen, die entweder noch im Transit sind, die in Wien bleiben wollen, aber noch kein Quartier gefunden haben oder unschlüssig über den Verbleib sind, aber auch durch Menschen, die sich im Ankunftszentrum aufhalten müssen, weil ihr Privatquartier tagsüber nicht dafür geeignet ist, keine Sozialkontakte oder keine ausreichende Verpflegung und Betreuung bietet. Durch die dezentrale Unterbringung bei Privatpersonen, auf die in dieser Fluchtbewegung viel stärker gesetzt wird als im Jahr 2015, fehlt es manchen Ankommenden also an Tagesstruktur, persönlicher Ansprache und sozialem Austausch. Dies betrifft vor allem Geflüchtete mit besonderen Bedürfnissen, etwa Kinder und Senior*innen, Menschen mit chronischen Erkrankungen und mit körperlicher Beeinträchtigung. Private Quartiergeber*innen von temporären Unterkünften können auf spezielle Bedürfnisse, aber auch auf generellen psychosozialen Betreuungsbedarf während des Tages oft nicht ausreichend eingehen. Hier kann durch Schaffung von Tagesstätten und Sozialräumen ohne Konsumzwang, mit regelmäßiger warmer Essensausgabe, Infrastruktur (Internet, Strom, Laptops) und Möglichkeiten für Rückzug, Kinderbetreuung und Tierversorgung, auch mittel- und langfristig unterstützt werden. Schüler*innen und Studierende, die mittels online-Lehre ihren Unterricht aus der Ukraine hier in Österreich absolvieren, brauchen ruhige Lernräume mit entsprechender Infrastruktur, Bibliothekszugang und Möglichkeiten zum sozialen Austausch.

Was derzeit noch fast völlig fehlt, ist ein Angebot an psychosozialer Betreuung. Aus der Ukraine Geflüchtete sind oft durch eigene Kriegserfahrungen oder den gewaltsamen Tod naher Angehöriger traumatisiert und benötigen dringend Hilfe. Menschen, die darunter leiden, dürfen nicht auf sich allein gestellt bleiben, wenn sie sich in einer neuen Umgebung, in der sie sich auch sprachlich nicht verständigen können, zurechtfinden sollen. In vielen Fällen könnte schon ein einfaches Gespräch mit psychologisch geschulten Personen helfen, bzw. Menschen, die dies benötigen, den Weg zu einer psychiatrischen Therapie bahnen. In Erstaufnahmezentren könnten solche Hilfsangebote auch durch Personen mit ausreichenden ukrainischen oder russischen Sprachkenntnissen unterstützt werden.