2. Die notwendige Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes
Die Zahl der jährlichen Einbürgerungen in Wien ist in den letzten 20 Jahren massiv zurückgegangen. Während in den Jahren bis 2003 langfristig die Einbürgerungszahlen deutlich gestiegen sind und 2003 einen Höhepunkt von über 18.000 erreicht haben, sind sie in den Jahren danach noch deutlicher gesunken, und erreichten 2010 mit 1.745 Einbürgerungen nur mehr ein Zehntel des Wertes von 2003. In den Folgejahren nahmen die Einbürgerungen langfristig wieder zu und erreichten im Vorjahr schließlich 4.478, was dem Niveau der 1980er-Jahre entspricht.[1] Wien folgt damit im Wesentlichen der Entwicklung der österreichweiten Einbürgerungen, welche primär durch die schrittweisen Verschärfungen der Einbürgerungskriterien im Staatsbürgerschaftsgesetz ab 1998 geprägt ist (Valchars/Bauböck 2021: 73ff).
Dies bestätigt auch ein Blick auf die Einbürgerungsrate: Sie betrug im Jahr 2022 in Wien (wie auch österreichweit) 0,7 Prozent. In diesem Jahr wurden somit nur 7 von 1.000 Wiener*innen ohne österreichische Staatsbürgerschaft eingebürgert. 2002 lag dieser Wert in Wien noch bei 6,7 Prozent, seit 2010 trotz steigender Einbürgerungszahlen konstant auf niedrigem Niveau zwischen 0,5 Prozent und 0,8 Prozent (in Österreich zwischen 0,6 Prozent und 0,7 Prozent).[2] Auffallend sind diese niedrigen Einbürgerungsraten nicht nur im zeitlichen Verlauf, sondern auch im europäischen Ländervergleich: 2021 (aktuellste Vergleichszahlen) hatten nur die baltischen Staaten eine niedrigere Einbürgerungsrate als Österreich. Der EU-Durschnitt lag bei 2,0 Prozent und war damit fast 3-Mal so hoch, Deutschland bei 1,2 Prozent und Schweden gar bei 10,0 Prozent.[3]
Gesetzliche Hürden beim Zugang zur Staatsbürgerschaft
Im internationalen Vergleich ist Österreich beim Zugang zur Staatsbürgerschaft einer der restriktivsten Staaten. In dieser Hinsicht rangiert Österreich zusammen mit Bulgarien am letzten Platz in Europa beim vom Brüsseler Thinktank Migration Policy Group erstellten Migrant Integration Policy Index (Solano/Huddleston 2020).
Die Bedingungen für den Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft durch Einbürgerung sind zahlreich und schwer zu erfüllen. Sie stellen im Alltag vieler Betroffener hohe, zum Teil unüberwindbare Hürden dar. Die vom Bundesgesetzgeber im Staatsbürgerschaftsgesetz festgelegten Einbürgerungskriterien wurden in den letzten beiden Jahrzehnten ab 1998 durch mehrere Novellen schrittweise ergänzt und verschärft (Valchars/Bauböck 2021). Insbesondere das gesetzlich verlangte Mindesterwerbseinkommen bildet eine hohe soziale Hürde für die Einbürgerung (Stadlmair 2014; 2018b), von der zudem Frauen und insbesondere Alleinerzieherinnen im besonderen Maße betroffen sind (Rössl/Valchars 2019). In Wien leben zwischen 15 Prozent und 20 Prozent der Drittstaatsangehörigen mit mehr als 10 Jahren Aufenthalt in Österreich in Haushalten, die das für eine Einbürgerung nötige Einkommen nicht erreichen.[4] Hinzu kommen hohe Einbürgerungsgebühren (Bundes- und Landesgebühren), die für Personen mit geringem Einkommen ein zusätzliches Hindernis darstellen können. So machen beispielsweise die Bundes- und Landesgebühren bei einer gemeinsamen Einbürgerung von 2 Erwachsenen und einem Kind in Wien mehr als EUR 2.700,- aus (Stiller 2019: 90ff). Möglicherweise anfallende Übersetzungs- und Beglaubigungskosten für vorzulegende Dokumente und Gebühren für die Rücklegung der bisherigen Staatsbürgerschaften können hier den finanziellen Aufwand noch deutlich erhöhen.
Einen Ausschluss anderer Art stellt die Bedingung sozialen Wohlverhaltens und rechtlicher Unbescholtenheit dar. Im Wiederholungsfall können sogar bestimmte Verwaltungsübertretungen den Zugang zur Staatsbürgerschaft blockieren (Stern 2012: 338f). Immer wieder kommt es vor, dass eine Einbürgerung wegen Verstößen gegen die Straßenverkehrsordnung oder einer fehlenden Kfz-Begutachtung abgelehnt wird (Ecker et al. 2017:194-230).
Eine Regeleinbürgerung ist in Österreich erst nach einer Aufenthaltsdauer von mindestens 10 Jahren, die nicht durch zu lange Auslandsaufenthalte unterbrochen werden darf, möglich[5] und für die zudem eine lückenlose Kette von Aufenthaltstitel nachgewiesen werden muss. Diese lange Dauer und die restriktiven Detailregelungen der Berechnung, die den tatsächlich erforderlichen Aufenthalt in der Praxis noch zusätzlich erhöhen können, stellen eine weitere deutliche Hürde bei der Einbürgerung dar.
Dasselbe gilt für die Notwendigkeit der Rücklegung der bisherigen Staatsbürgerschaft(en), mit der die Entstehung von Doppel- und Mehrfachstaatsangehörigkeiten bei der Einbürgerung im Regelfall verhindert werden soll. Der Zwang, die bisherige Staatsbürgerschaft bei einer Einbürgerung zurücklegen zu müssen, ist für Menschen, die die übrigen Einbürgerungsvoraussetzungen erfüllen, der zentrale Grund, warum sie die österreichische Staatsbürgerschaft dennoch nicht anstreben. Das zeigt auch eine aktuelle Studie im Auftrag der Stadt Wien aus dem Jahr 2021: 65% aller Befragten, die derzeit kein Interesse an einer Einbürgerung haben, gaben an, an der österreichischen Staatsbürgerschaft interessiert zu sein, wenn sie ihre bisherige behalten könnten (Haller/Stadlmair 2021). Insbesondere unter Unionsbürger*innen wird die Rücklegungspflicht als Hauptgrund gegen eine Einbürgerung genannt. Das belegen zum Beispiel auch die Erfahrungen in Dänemark, wo die Einbürgerungsanträge von Unionsbürger*innen sprunghaft anstiegen, nachdem ab 2015 Doppelstaatsbürgerschaften akzeptiert worden waren (Ersbøll 2021). Dabei sind die Regeln in Bezug auf Doppelstaatsbürgerschaften in Österreich höchst widersprüchlich, sodass von einer generellen Vermeidung nicht mehr gesprochen werden kann. Ihre Entstehung bei Geburt wird uneingeschränkt akzeptiert und auch bei der Einbürgerung in Österreich oder der Annahme einer weiteren Staatsbürgerschaft durch Österreiche*innen bestehen mittlerweile zahlreiche Ausnahmen, die zu einer Verbreitung von Mehrfachstaatsbürgerschaften geführt haben.
Restriktiv ist das österreichische Staatsbürgerschaftsrecht auch in Bezug auf den Erwerb bei Geburt, der sich ausschließlich nach dem Abstammungsprinzip (ius sanguinis) über die Staatsbürgerschaft der Eltern ableitet. Für die Kinder nicht-österreichischer Eltern gibt es damit keine Möglichkeit, die Staatsbürgerschaft ihres Geburts- und Aufenthaltslandes unmittelbar bei ihrer Geburt zu erwerben. Ihnen steht lediglich die Möglichkeit einer späteren Einbürgerung offen – abgesehen von einer verkürzten Wohnsitzfrist im Wesentlichen unter denselben Voraussetzungen und Hürden, wie sie für eine gewöhnliche Einbürgerung gelten.
Die Regelung hat dazu geführt, dass der Anteil der in Wien geborenen Kinder nicht-österreichischer Staatsbürgerschaft langfristig deutlich zugenommen hat und schon bei über einem Drittel aller Neugeborenen liegt.[6] Derzeit leben rund 100.000 Kinder und Erwachsene in Wien, die zwar in Österreich zur Welt gekommen sind, aber nicht die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen. Umgekehrt wurde mehr als ein Drittel aller Personen, die in den letzten Jahren in Österreich eingebürgert wurden, in Österreich geboren.
Gegen eine ergänzende Einführung des Geburtslandprinzips (ius soli) wird oft vorgebracht, dass damit ein „Geburtstourismus“ von Drittstaatsangehörigen ausgelöst würde, die an EU-Pässen für ihre Kinder interessiert sind. Das Argument geht jedoch ins Leere, weil es in Europa seit 2004 kein Land mehr gibt, in dem alle im Inland Geborenen automatisch die Staatsbürgerschaft erhalten. Stattdessen gibt es in Belgien, Deutschland, Irland und Portugal ein bedingtes ius soli, das eine bestimmte reguläre Aufenthaltsdauer eines Elternteils voraussetzt. Deutschland hat diese Regelung schon 2000 eingeführt. Die derzeitige deutsche Bundesregierung will die dafür notwendige Aufenthaltsdauer für Eltern von 8 auf 5 Jahre verkürzen und Doppelstaatsbürgerschaft bei Geburt wie auch bei Einbürgerung generell akzeptieren.