1. Warum Einbürgerungen im Interesse der Stadt Wien sind
Wien ist eine dynamische Stadt mit einer stark wachsenden Bevölkerung. Alleine seit 2005 ist die Stadt um die Größe von Graz gewachsen und wird voraussichtlich noch dieses Jahr die 2-Millionen-Grenze überschreiten. Wie für Metropolen typisch, ist dabei insbesondere internationale Zuwanderung der Motor des städtischen Bevölkerungswachstums.[1] Zu Beginn des heurigen Jahres besaßen 680.000 der knapp 2 Millionen Wiener*innen keine österreichische Staatsbürgerschaft. Der Anteil der Nicht-Staatsbürger*innen an der Stadtbevölkerung ist damit alleine in den letzten 10 Jahren von 23 Prozent im Jahr 2013 auf aktuell über 34 Prozent angestiegen.[2] Die große Mehrheit dieser Menschen in Wien haben ihren neuen Lebensmittelpunkt langfristig nach Österreich verschoben und ihren Aufenthalt verstetigt: Knapp mehr als die Hälfte (50 Prozent) aller Wiener*innen ohne österreichische Staatsbürgerschaft leben schon seit 10 Jahren oder länger im Land und fast 4 Fünftel (79 Prozent) bereits länger als 5 Jahre. 16 Prozent (knapp 100.000) der in Wien lebenden Nicht-Österreicher*innen sind in Österreich zur Welt gekommen.[3]
Als Stadt weist Wien im Vergleich mit den anderen österreichischen Bundesländern mit deutlichem Abstand den höchsten Anteil an Nicht-Staatsangehörigen an der Bevölkerung auf (nach Wien rangieren an 2. und 3. Stelle Vorarlberg und Salzburg mit je rund 19 Prozent[4]). Dass hohe Anteile von zugewanderter Bevölkerung ohne Staatsbürgerschaft primär ein städtisches Phänomen sind, zeigt der Vergleich mit anderen österreichischen Städten, die nahe an Wien herankommen –Wels und die Stadt Salzburg mit je rund 30 Prozent, Innsbruck (29 Prozent), Graz und Linz (je rund 26 Prozent).[5]
Repräsentations-, Legitimations- und Demokratiedefizit
Dieser hohe und wachsende Anteil der Wiener Bevölkerung mit zum Teil langer Aufenthaltsdauer, aber ohne österreichische Staatsbürgerschaft ist ein Problem mit weitreichenden Auswirkungen auf das politische Gefüge nicht nur Wiens sondern ganz Österreichs, auf die kommunale Demokratie und die Integration.
Da das Wahlrecht in Österreich bundesverfassungsrechtlich an die Staatsbürgerschaft geknüpft ist, bedeutet der Nicht-Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft den weitgehenden Ausschluss vom Wahlrecht. Nur Unionsbürger*innen sind in Wien wahlberechtigt; das allerdings auch nur auf Bezirksebene. Bei den Gemeinderats- und Landtagswahlen ist damit jede 3. Wienerin und jeder 3. Wiener ausgeschlossen und damit im politischen Geschehen nicht repräsentiert. Die Stimmabgabe ist die Möglichkeit politische Präferenzen zu artikulieren, auf eigene Anliegen und Interessen aufmerksam zu machen, an gemeinsamen Entscheidungen mitzuwirken, politisches Handeln zu legitimieren, Fehlverhalten des politischen Personals zu sanktionieren und die Geschicke des Landes mitzugestalten. Wer jedoch über keine Stimme verfügt, ist politisch machtlos und erhält nach der politischen Marktlogik von Parteien und Kandidat*innen auch weniger Aufmerksamkeit. Interessen bleiben unberücksichtigt und Anliegen werden nicht repräsentiert. Für die Demokratie bedeutet dieses zunehmende Auseinanderdriften von Wohnbevölkerung und wahlberechtigter Bevölkerung damit ein gravierendes Repräsentations- und Legitimationsdefizit.
Ein Blick auf die letzten Wiener Gemeinderats- und Landtagswahlen im Jahr 2020 zeigt bereits drastisch die Auswirkungen dieser Entwicklung: Nur knapp 46 Prozent der Wiener*innen im Wahlalter haben an dieser Wahl tatsächlich teilgenommen und eine der kandidierenden Parteien gewählt. Die Mehrheit aber hat an dieser Wahl nicht mitgewirkt, weil sie entweder nicht wahlberechtigt war (29,9 Prozent) oder sich der Stimmabgabe enthielt (24,4 Prozent)(Valchars/Kohlenberger 2021).
Die große Zahl von Wiener*innen, die vom Wahlrechtsausschluss betroffen sind, führt darüber hinaus aber noch zu deutlich weitreichenderen Verzerrungen der Repräsentation. Die Wahlberechtigten sind kein Spiegelbild der Wiener Bevölkerung mehr, sie sind beispielsweise im Durchschnitt älter und einkommensstärker, sind stärker in bestimmten Bezirken und Stadtteilen konzentriert und arbeiten in anderen Branchen und Berufen als die Gesamtheit der Wiener*innen im Wahlalter. Da sich die Politik primär an ihren jeweiligen Wähler*innen orientiert, werden so nicht nur die Interessen von Migrant*innen weniger beachtet, sondern es wird auch eine ganze Reihe weiterer Bevölkerungsgruppen mit weniger politischem Gewicht ausgestattet als ihnen zustünde (Stadlmair 2018a, Zandonella/Ehs 2020).
Diese verzerrte Repräsentation hat nicht nur erhebliche Auswirkungen auf das innerstädtische politische Gefüge, sondern darüber hinaus auch auf die Position Wiens auf bundespolitischer Ebene. Beispielsweise werden die Sitze im National- und Bundesrat auf die 9 Bundesländer nach der Zahl der gemeldeten Staatsbürger*innen aufgeteilt und nicht nach der Bevölkerungsgröße. So hat Niederösterreich zwar weniger Einwohner*innen als Wien, dem Bundesland kommt mit 37 Nationalratsmandaten aber ein deutlich stärkeres Gewicht zu als Wien mit 33 Mandaten.
Nicht zuletzt bildet der wahlrechtliche Ausschluss eines großen Teils der Bevölkerung mit Migrationsgeschichte Anreize für politische Parteien, in Wahlkämpfen Vorurteile gegen diese Gruppen zu mobilisieren, weil bei Wähler*innen mit migrationsfeindlichen Einstellungen mehr Stimmen zu holen sind als bei Migrant*innen.
Staatsbürgerschaftserwerb als Katalysator für Integration
Seit der Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1998 wird in Österreich immer wieder betont, dass die Staatsbürgerschaft ein „hohes Gut“ und ihr Erwerb „der letzte Schritt einer geglückten Integration in Österreich“ sei.[6] Diese Formel diente als Rechtfertigung für zahlreiche Verschärfungen der Einbürgerungsbedingungen seither. Was dabei ausgeblendet wird, ist die Frage, ob der Zugang zur Staatsbürgerschaft nicht umgekehrt für die Integration von Migrant*innen wichtig ist. Dieser Frage sind in letzter Zeit eine Reihe von internationalen sozialwissenschaftlichen Studien nachgegangen, deren Ergebnisse sich so zusammenfassen lassen: Einbürgerung korreliert mit höherem Einkommen, weniger Arbeitslosigkeit, besseren Wohnverhältnissen und Bildungskarrieren der Kinder nach dem Erwerb der Staatsbürgerschaft. Dieser Zusammenhang beruht nicht nur darauf, dass Menschen mit besseren Integrationsvoraussetzungen auch häufiger Einbürgerungsanträge stellen – in einer Schweizer Studie wurde auch eine kausale Wirkung der Einbürgerung auf soziale Integration nachgewiesen (Hainmueller/Hangartner 2017). Bei einem Vergleich von ansonsten ähnlichen Einwanderer*innengruppen stellten die Autoren fest, dass der Erhalt der Schweizer Staatsbürgerschaft die langfristige Integration signifikant verbesserte. Auch andere Studien zeigen positive Effekte der Einbürgerung auf die Löhne, die Sozialkontakte und die Erwerbsquote von Migrant*innen. Allerdings hängt diese Wirkung auch von den Einbürgerungsbedingungen ab. Ist Einbürgerung sehr schwierig und können die Voraussetzungen erst viele Jahre nach der Einwanderung erfüllt werden, dann verpufft der Integrationseffekt. Einen zusätzlichen Anschub für die Integration liefert Einbürgerung dann, wenn sie eine realistische Perspektive innerhalb von 4 bis 6 Jahren Aufenthalt darstellt. Die Erklärung dafür könnte sein, dass die Aussicht auf die Staatsbürgerschaft die Motivation für Niederlassung und daher auch individuelle Integrationspläne verstärkt (Peters et al. 2018). Der Integrationseffekt der Einbürgerung lässt sich also einerseits durch höhere Identifikation mit dem Zielland und andererseits weniger Diskriminierung durch Einheimische erklären, die Eingebürgerte als eher zugehörig und somit ihnen gleichgestellt wahrnehmen, wodurch strukturelle wie individuelle Barrieren reduziert werden. Der Integrationsgewinn durch Einbürgerung ist besonders deutlich für Menschen aus weniger entwickelten Herkunftsländern (Peters et al. 2019).
Einen ähnlichen Integrationseffekt belegen auch jüngste Studien des deutschen Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, in denen die ergänzende Einführung des Geburtslandprinzips in Deutschland durch eine Gesetzesreform 1999 analysiert wird. Demnach weisen Kinder nicht-deutscher Eltern, die durch diese Neureglung die deutsche Staatsbürgerschaft automatisch bei ihrer Geburt in Deutschland erworben haben, höhere Bildungserwartungen und höhere tatsächliche schulische Leistungen auf. So steigt beispielsweise die Wahrscheinlichkeit des Besuchs des Kindergartens und des Gymnasiums, zusätzlich verbessern sich ihre Deutschfähigkeiten (und die ihrer Eltern), das sozioemotionale Verhalten und ihre Schulleistungen im Vergleich zu Kindern, die bei ihrer Geburt in Deutschland nicht die deutsche Staatsbürgerschaft erworben hatten.[7]
Aus den Ergebnissen lässt sich schlussfolgern, dass der Erwerb der Staatsbürgerschaft durch Einbürgerung und bei Kindern automatisch bei der Geburt als eine Art „Katalysator“ die Integration kausal beschleunigen kann und nicht den krönenden Abschluss eines Integrationsprozesses darstellt.
Einbürgerung alleine garantiert jedoch noch nicht die volle politische Integration. Studien auch für Wien zeigen, dass Eingebürgerte eine deutlich niedrigere Wahlbeteiligung aufweisen als gebürtige Staatsbürger*innen. Dies liegt daran, dass eine Umgebung von Nichtwahlberechtigten sich auch auf die Beteiligung von Wahlberechtigten auswirkt. Das soziale Umfeld und persönliche Netzwerke haben insbesondere bei Wahlen großen Einfluss auf politische Partizipation (Ehs 2018).
Gegen eine leichtere Einbürgerung und dem Zugang zu Wahlrechten wird manchmal eingewendet, dass damit ethnische Konflikte oder von autoritären Regierungen in den Herkunftsländern propagierte Wertvorstellungen in die heimische Politik getragen werden könnten. Es ist eine Tatsache, dass in diversen Migrationsgesellschaften oft auch illiberale Werte und antidemokratische Haltungen – sowohl unter „Einheimischen“ als auch unter „Zugewanderten“ – stärker artikuliert werden. In Österreich ist im Vergleich zu anderen europäischen Staaten das Stimmpotenzial für die rechtsnationale FPÖ, die sich am Vorbild Viktor Orbáns orientiert, besonders hoch. Gleichzeitig stimmt seit Einführung des Wahlrechts für türkische Staatsangehörige im Ausland ein besonders hoher Anteil von türkischen Wähler*innen in Österreich für den autoritären Staatspräsidenten Erdoğan (in den Wahlen 2018 und 2023 jeweils mehr als 70 Prozent). Die Verteidigung demokratischer Werte und des Rechtsstaats ist sowohl in der gesamten österreichischen Gesellschaft als auch innerhalb der Einwanderer*innen-Communities eine zentrale Aufgabe. Der langjährige Ausschluss der Migrant*innen von politischer Partizipation erschwert diese. Er erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass autoritäre Regime in Herkunftsstaaten, wie jenes von Erdoğan in der Türkei, erfolgreich als „Schutzmacht“ für eine ausgegrenzte Diaspora auftreten können und verringert die Chance auf die „Rücküberweisung“ demokratischer Einstellungen aus Österreich in diese Herkunftsländer.
Unsere Schlussfolgerung ist, dass Wien ein fundamentales Interesse daran hat, den Zugang zur Staatsbürgerschaft für die hier geborenen und niedergelassenen Menschen zu fördern und die Einbürgerungsraten entsprechend zu erhöhen. Die politische Inklusion und Gleichberechtigung der Menschen mit Migrationsgeschichte würden die Qualität der Demokratie in der Stadt erhöhen und auch deren soziale Integration beschleunigen.