1. Drei Ziele: Erstaufnahme verbessern, Integrationsangebote entwickeln, Rückkehrhilfen anbieten
Es gibt vier Dynamiken der Fluchtbewegung: Erstens den überwiegenden Wunsch der Vertriebenen, sobald als möglich in die Ukraine zurückzukehren. Bereits heute, unter den Bedingungen des anhaltenden Kriegs, sind Menschen, die vorübergehend in EU-Staaten Schutz gesucht haben, in die Ukraine zurückgekehrt. Zweitens wird es zu dauerhafter Niederlassung in Wien und Österreich kommen, wenn eine Rückkehr nicht möglich ist, weil die Kriegshandlungen andauern, weil Städte zerstört wurden oder weil die wirtschaftlichen Folgen des Krieges massiv sind. Drittens werden Geflüchtete, die in Nachbarstaaten der Ukraine aufgenommen wurden, aus diesen weiterwandern, wenn sie sich dort wegen der großen Überlastung der Arbeits- und Wohnungsmärkte keine neue Existenz aufbauen können – und für viele wird Wien eine attraktive Option sein. Viertens könnte sich auch die derzeitige demographische Zusammensetzung der Vertriebenen, von denen die meisten Frauen und minderjährige Kinder sind, ändern. Im Fall eines Waffenstillstands und einer langfristigen russischen Okkupation einzelner Teile des Ostens und Südens, kann es zu neuen massiven Fluchtbewegungen kommen. Insbesondere werden dann Männer, die jetzt in der Verteidigung eingesetzt sind, und ältere Personen in größeren Zahlen ihren bereits vorher geflüchteten Familienmitgliedern nachwandern.
Derzeit ist nicht absehbar, welche der oben angesprochenen Fluchtdynamiken überwiegen wird. Am wahrscheinlichsten ist eine Kombination aus allen vier, wobei es vom Verlauf des Kriegs abhängt, welche davon stärker und welche schwächer sein wird. Die Herausforderung für die Stadt Wien besteht darin, bei den jetzt notwendigen kurzfristigen Maßnahmen immer auch diese vier Dynamiken mit zu berücksichtigen. Angesichts der Unsicherheit über die langfristigen Entwicklungen beschränken wir uns in diesem Statement auf kurz- und mittelfristig notwendige Maßnahmen. Angelehnt an eine rezente OECD-Studie (OECD 2022) empfehlen auch wir die Ausgestaltung von dual intent Integrationsangeboten, die die Teilhabe in Österreich fördern, aber auch die Rückkehr und Wiedereingliederung in die Ukraine unterstützen können. Das zentrale Anliegen des Wiener Integrationsrates ist es, dass die Maßnahmen der Stadt Wien angesichts der Unsicherheit über die weiteren Entwicklungen drei Ziele gleichzeitig verfolgen:
- Erweiterung der Kapazitäten und Verbesserung der Qualität der Versorgung in der Erstaufnahme der neu Ankommenden,
- Planung für den Übergang von temporärem Schutz zu dauerhafter Niederlassung und Integration, aber auch
- Hilfestellungen für die Option einer Rückkehr in die Ukraine oder Weiterwanderung in andere Aufnahmeländer.
Innerhalb kürzester Zeit muss für eine große Anzahl an Menschen Wohnraum gefunden werden. Da unter den Geflüchteten besonders viele (kindergarten- und schulpflichtige) Kinder sind, ist das Bildungssystem intensiver gefordert als in früheren Wanderungsbewegungen. Der für die meisten Ankommenden vorerst geklärte rechtliche Status (temporärer Schutz) erleichtert die Situation für die vertriebenen Menschen, aber auch für jene, die in die Betreuung involviert sind. Trotzdem gilt es zahlreiche organisatorische Herausforderungen zu meistern.
Wenn die Unsicherheit über die weitere Entwicklung und die unterschiedliche Situation der Geflüchteten berücksichtigt wird, dann dürfen einerseits Integrationsmaßnahmen nicht mit der Begründung hinausgezögert werden, dass diese im Fall der Rückkehr keinen Sinn machen. Wir wissen aus der Erfahrung mit jahrelangen Asylverfahren, wie sehr eine andauernde Wartesituation eine spätere Integration erschwert. Andererseits müssten solche Maßnahmen in Zusammenarbeit mit ukrainischen Institutionen auch die Vorbereitung auf eine mögliche und von den meisten Ukrainer*innen gewünschte Rückkehr beinhalten.
Das betrifft aus unserer Sicht insbesondere den Wohnungsmarkt und das Bildungssystem sowie den Arbeitsmarkt. Gerade für jene, die sich in Ausbildung befinden, ist es wichtig eine Anschlussfähigkeit an das ukrainische Bildungssystem zu bewahren und gleichzeitig eine Eingliederung in das österreichische Bildungssystem zu schaffen. Investitionen in schulische Bildung und berufliche Ausbildung wären im Fall der Rückkehr auch ein Beitrag der Stadt Wien zum Wiederaufbau der Ukraine. Am ohnehin angespannten Wohnungsmarkt gilt es kurz- mittel- und langfristig leistbaren Wohnraum zu schaffen. Da derzeit besonders viele Mütter mit Betreuungspflichten ankommen, muss am Arbeitsmarkt deren spezifische Situation berücksichtigt werden, aber auch mit der Möglichkeit des Nachkommens weiterer Familienmitglieder gerechnet werden.
Aus früheren Fluchtbewegungen wissen wir, dass Menschen ihre Überlegungen zu einer Rückkehr in die Herkunftsregion immer wieder überdenken. Kurz nach einer Flucht herrscht zumeist der Wunsch nach Rückkehr vor. Die räumliche Nähe der Ukraine zu Österreich, der für die allermeisten sehr abrupte Aufbruch, die zurückgelassenen Familienmitglieder und die von der EU ermöglichte Bewegungsfreiheit machen eine Rückkehr für viele Vertriebene wahrscheinlich. Je länger dieser Krieg andauert, umso eher ist aber auch damit zu rechnen, dass Vertriebene eine dauerhafte Verlagerung ihres Lebensmittelpunktes anstreben. Außerdem wird es in diesem Fall auch vermehrt zu innereuropäischer Migration aus jenen Staaten kommen, die derzeit besonders viele Vertriebene aufgenommen haben. Die Erstaufnahmezentren berichten, dass im Gegensatz zu den in den ersten Kriegswochen Geflohenen, nun jene, die aktuell aus den umkämpften Gebieten in der Ostukraine ankommen, die Hoffnung auf baldige Rückkehr oft schon aufgegeben haben.