4. Empfehlungen für Wien
In ihrem Programm aus dem November 2020 verpflichtet sich die Wiener Stadt- und Landesregierung, demokratische Teilhabe in Wien zu stärken und nennt dazu die folgenden Vorhaben:
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Spürbar verbesserte Abläufe und zusätzliche Ressourcen im Bereich Einwanderung und Staatsbürgerschaft (MA 35)
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Eintreten für ein modernes und integrationsförderndes Staatsbürgerschaftsrecht und Abbau von Hürden beim Zugang zur Staatsbürgerschaft gegenüber dem Bund
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Eine Wiener Einbürgerungskampagne, die Wiener*innen ermutigt, Staatsbürger*innen zu werden.
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Senkung der Landesgebühren für Einbürgerungen[1]
Die Wiener Koalitionsregierung bekennt sich also dazu, Einbürgerungen zu erleichtern und zu fördern. Da die Durchführung von Einbürgerungen Ländersache ist, verfügt sie auch über administrative Kompetenzen in dieser Frage. Allerdings ist der Ermessensspielraum der Behörden durch immer detailliertere Festlegung von Einbürgerungsvoraussetzungen und auch durch die Judikatur der Höchstgerichte seit dem Ende des 20. Jahrhunderts stark eingeschränkt worden. Konnte Wien noch in den 1980er und 90er Jahren eine wesentlich liberalere Einbürgerungspolitik verfolgen als andere österreichische Bundesländer, so ist das heute kaum mehr möglich. Die gesetzlichen Vorgaben bedingen auch einen enormen bürokratischen Aufwand im Vollzug – etwa bei der Prüfung der Einkommens- und Aufenthaltskriterien oder bei der Notwendigkeit der Beschaffung von Dokumenten aus den Herkunftsstaaten.
Verstärkt durch politische Signale aus der Bundespolitik, dass Staatsbürgerschaft ein hohes Gut sei und niedrige Einbürgerungsraten daher auch politisch erwünscht, hatten diese gesetzlichen Vorgaben einen Abschreckungseffekt, so dass über lange Jahre auch die Zahl der Anträge relativ gering war. Es gibt Anzeichen dafür, dass sich dies ändern könnte, weil die großen Zahlen von Geflüchteten und Migrant*innen, die 2015 und 2016 nach Österreich gekommen sind, nun zunehmend Einbürgerungskriterien erfüllen und die Anreize für Einbürgerung unter Geflüchteten, die keine Rückkehroptionen haben, besonders stark sind.
Wir empfehlen daher der Stadt Wien, sich auf verstärktes Interesse an Einbürgerung einzustellen und die im Regierungsprogramm angekündigten und bereits begonnenen Reformen (Aufstockung der Personalressourcen der MA 35, transparentere und effizientere Verfahren und stärkerer Einsatz digitaler Informationsverarbeitung) auszuweiten und zu intensivieren sowie zusätzlich verpflichtende Schulungen und Anti-Rassismus-Trainings zu organisieren. Wir begrüßen Bemühungen, die überlangen Wartezeiten zwischen Erstgesprächen, Entgegennahme von Einbürgerungsanträgen und deren Erledigung zu verkürzen. Ein gutes Beispiel dafür sind die vor kurzem eingeführten Informationsabende mit Beratungsangebot in Zusammenarbeit mit dem Beratungszentrum für Migranten und Migrantinnen anstelle des individuellen Erstgesprächs mit der Behörde.
Die Landesgebühren für Einbürgerung sind bereits derzeit in Wien am niedrigsten.[2] Die angestrebte Senkung der Landesgebühren wäre daher allenfalls ein Signal, dass Wien „mit gutem Beispiel vorangeht“ und glaubwürdiger ist, wenn von anderen Bundesländern und vor allem vom Bund eine Senkung hoher Gebühren gefordert wird. Um trotz hoher Bundesgebühren dennoch eine Einbürgerung zu ermöglichen oder zu erleichtern, wäre es für die Antragsteller*innen allerdings wichtiger, einen finanziellen Zuschuss einzuführen, der die Bundesgebühren abdeckt.
Die im Wiener Regierungsprogramm angekündigte Einbürgerungskampagne würde einerseits das stärkste Signal senden, dass die Stadt Wien ernsthaft daran interessiert ist das Demokratie- und Integrationsdefizit abzubauen. Eine solche Kampagne hätte allerdings zur Voraussetzung, dass Anträge zügig abgearbeitet werden können. Solange dies nicht gewährleistet ist, kann auch kaum glaubwürdig für Einbürgerung geworben werden. Daher sollte die Beschleunigung von Verfahren bei der MA 35 oberste Priorität haben.
Das Eintreten der Stadt für eine grundlegende Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes auf Bundesebene könnte noch deutlicher sein als bisher. Die Stadt Wien könnte – auch in Kooperation mit anderen Bundesländern – der Bundesregierung einen Katalog von dringenden Änderungen des Gesetzes vorlegen, die aus Sicht der Vollzugsbehörden notwendig sind, um Einbürgerungen rascher zu erledigen. Sie könnte auch verbleibende Spielräume im Vollzug ausloten und abwarten, ob dies von den Höchstgerichten bestätigt wird. Ein Beispiel dafür wären interne Richtlinien, wann auf schwer zu beschaffende Dokumente aus den Herkunftsländern verzichtet werden kann, um Verzögerungen im Verfahren zu vermeiden.
Der Wiener Integrationsrat empfiehlt weiters, auf den Nachweis der Rücklegung der bisherigen Staatsbürgerschaft vor der Einbürgerung in Österreich generell zu verzichten und stattdessen auch für Drittstaatsangehörige jene Regel anzuwenden, die seit einem Urteil des EuGH aus dem Jahr 2022 für Unionsbürger*innen gilt, nämlich, dass der Nachweis der Rücklegung erst nach dem Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft innerhalb von 2 Jahren erfolgen muss. Für Drittstaatsangehörige gibt es derzeit diese Möglichkeit, wenn der Herkunftsstaat die Rücklegung nur dann akzeptiert, wenn bereits eine andere Staatsangehörigkeit angenommen wurde; wenn die Rücklegung generell nicht möglich ist; oder wenn sie unzumutbar ist. Diese Auslegung des Gesetzes berücksichtigt jedoch nicht, dass Österreich nicht nur europarechtlich, sondern auch völkerrechtlich zur Vermeidung von Staatenlosigkeit verpflichtet ist. Es liegt in der Hand der Behörde, menschenrechtskonform zu agieren und die Rücklegung generell und nicht erst nach der Einbürgerung zu verlangen.
Darüber hinaus sollte die Wiener Landesregierung gemeinsam mit anderen Bundesländern, Städten und Gemeinden jedoch vor allem in der Öffentlichkeit stärker für eine umfassende Reform der Staatsbürgerschaft eintreten, die neben einer Senkung der ausschließenden Einbürgerungskriterien auch die allgemeine Akzeptanz von Doppelstaatsbürgerschaften und die Einführung eines bedingten ius soli enthält. Jenseits der demokratie- und integrationspolitischen Gründe, die wir dafür angeführt haben, würde der automatische Erwerb der Staatsbürgerschaft für in Österreich Geborene auch die Vollzugsbehörde entlasten, weil diese Menschen dann keine Einbürgerungsanträge mehr stellen müssten.
Im Zusammenhang mit Doppelstaatsbürgerschaften wäre es zudem wichtig, Transparenz durch amtliche Statistiken zu erzeugen. Trotz zahlreicher rechtlicher Ausnahmebestimmungen und der generellen Akzeptanz von Doppelstaatsbürgerschaften bei Geburt gibt es keine statistischen Informationen darüber, wie viele Österreicher*innen neben ihrer österreichischen noch eine oder mehrere weitere Staatsbürgerschaften besitzen. Wien sollte daher in seinem eigenen Wirkungsbereich die Entstehung von Mehrfachstaatsbürgerschaften bei der Geburt und der Einbürgerung und die behördliche Genehmigung der Beibehaltung beim Erwerb einer anderen Staatsbürgerschaft statistisch erheben. Diese Zahlen würden Transparenz über die Verbreitung und die behördliche Genehmigungspraxis schaffen und belegen, dass auch schon jetzt Doppel- und Mehrfachstaatsbürgerschaften in Österreich weit verbreitet sind.
Wir sind uns bewusst, dass das Programm der derzeitigen Bundesregierung – nach der bereits zuvor beschlossenen Zuerkennung der Staatsbürgerschaft für Nachkommen von Verfolgten des Nationalsozialismus – keine Reformen der Staatsbürgerschaft vorsieht. Aber die nächsten Nationalratswahlen werden spätestens im Herbst 2024 stattfinden. Wenn die Stadt Wien das Thema Zugang zur Staatsbürgerschaft stark besetzt, so erhöht das die Chancen, dass es von einer nächsten Bundesregierung nicht ausgeklammert werden kann.