1. Gesundheitszustand, Kommunikation und COVID-19 Prävention
Sozial und ökonomisch benachteiligte Menschen sind aufgrund ihrer Arbeits- und Lebenssituation häufiger von chronischen Erkrankungen betroffen (1), werden gleichzeitig aber von Gesundheitsförderungsangeboten weniger erreicht. Viele Studien zeigen, dass dies für Menschen mit Migrationshintergrund in ähnlichen Verhältnissen noch stärker zutrifft (Anzenberger et al., 2015). Erschwerend kommen sprachliche Hürden und geringere Kenntnisse des Gesundheitssystems bzw. von Angeboten der Gesundheitsförderung hinzu (Weigl & Gaiswinkler, 2016 und 2019). Ein wichtiger Aspekt kann die Gesundheitskompetenz sein, die in sozioökonomisch benachteiligten Gruppen allgemein weniger ausgeprägt ist (z.B. Weigl & Gaiswinkler, 2019). Daten aus anderen Ländern, darunter Portugal, Spanien, Kanada und skandinavischen Staaten, zeigen, dass Migrant*innen ein etwa doppelt so hohes COVID-19-Infektionsrisiko wie Menschen ohne Migrationshintergrund hatten, sowie ein höheres Risiko für einen schwereren Verlauf (OECD 2020) aufgrund von Vorerkrankungen.
Für Österreich liegen bislang nur unvollständige Daten vor. Die vielfach ungünstigen Arbeits- und Sozialverhältnisse in Kombination mit einem geringen Bildungskapital, nicht ausreichenden Deutschkenntnissen und vorwiegendem Konsum von Medien des Herkunftslandes erschweren den Zugang zu Informationen, die für die Pandemiebekämpfung wichtig sind. In einer Erhebung des Österreichischen Integrationsfonds unter Personen mit bosnisch-kroatisch-serbischem (BKS) Migrationshintergrund, sowie Personen aus Syrien und Afghanistan, und solchen ohne Migrationshintergrund (Perlot & Filzmaier, 2021) erwiesen sich Massenmedien (vor allem Fernsehen) und soziale Medien als die wichtigsten Informationsquellen. Für Zugewanderte – und speziell für jene aus Syrien und Afghanistan – sind jedoch Familie und Freund*innen in höherem Maß relevant für Informationsbeschaffung. Mögliche Informationslücken bzw. einseitige Information ausschließlich durch Medien aus Herkunftsländern können durch ein enges soziales Netz teilweise abgefedert werden. Zentral ist eine gezielte, auf den Alltag der Menschen ausgerichtete und sozial eingebettete Informationsvermittlung.
Neben sozialen Medien werden aber auch klassische Medien, allen voran der ORF und österreichische Tageszeitungen, von Menschen mit Migrationshintergrund konsumiert. Tatsächlich lässt sich eine teils hohe Quellenkompetenz feststellen (Kohlenberger et al. 2021). Während Qualitätsmedien zwar als seriöseste und vertrauenswürdigste Quellen für Informationen zu Coronavirus wahrgenommen werden, bilden fehlende sprachliche Kompetenzen oft eine unüberwindbare Barriere, um diese vollinhaltlich rezipieren zu können. Das gilt vor allem für neu angekommene Menschen wie Geflüchtete, deren Deutschkenntnisse noch geringer sind. Niederschwellige Informationen in den Muttersprachen sollten daher in die verschiedenen Social-Media-Kanäle zielgruppenspezifisch eingespeist werden. Die digitalen Möglichkeiten sollten um lebensweltnahe, analoge Kommunikations- und Informationsformen, wie beispielsweise über zivilgesellschaftliche Vereine, NGOs oder die Communities ergänzt werden.
Was den subjektiven Informationsstand betrifft, so fühlten sich Zuwanderer*innen aus der Türkei, aus Syrien und aus Afghanistan deutlich schlechter informiert als Menschen ohne Migrationshintergrund oder BKS-Zuwanderer*innen der ersten und zweiten Generation. Besonders schlecht informiert über die Pandemie und Schutzmöglichkeiten fühlen sich (geflüchtete) Menschen aus Afghanistan (Perlot & Filzmaier, 2021). Auch ältere Migrant*innen sind in dieser Hinsicht eine schwer erreichbare Gruppe (Kohlenberger et al. 2021). Sie sind bei der Suche nach Informationen, aber auch beim Anmelden zum Testen oder Impfen häufig auf die sprachliche, digitale und kulturelle Übersetzungsleistung ihrer Kinder oder Enkelkinder angewiesen. Dazu kommt, dass viele ältere Migrant*innen auch aufgrund früherer Erfahrungen befürchten, im Kontakt mit öffentlichen Stellen und Gesundheitseinrichtungen nicht ernst genommen oder schlechter behandelt zu werden (Reinprecht & Rossbacher 2016). So wichtig informelle Netze sind, um sich im Alltag orientieren zu können, muss es das Selbstverständnis der öffentlichen Gesundheitsversorgung sein, allen Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft und ihren individuellen Kompetenzen, Zugang zu verständlichen und validen Informationen zu verschaffen.
Derzeit fehlen ausreichend repräsentative Daten, die eine deutlich geringere Impf- und Testbereitschaft unter Migrant*innen belegen würden. Vorhandene Forschungen wie das Corona-Panel der Universität Wien weisen auf einen nur schwachen Zusammenhang hin, der sich unter Kontrolle weiterer Faktoren (wie Einkommen und Alter) auflöst. Wir warnen deshalb davor, österreichische COVID-19-Probleme wie eine im internationalen Vergleich geringe Impfbereitschaft zu ethnisieren oder zu kulturalisieren. Dies widerspricht allen verfügbaren Daten und dem Stand der Forschung.
Empfehlungen
Gesundheitslots*innen: Basierend auf langjährigen Forschungen (jüngst Kohlenberger et al. 2021) empfehlen wir deshalb die Ausbildung und den Einsatz von Gesundheitslots*innen, die Personen mit Migrations- und Fluchthintergrund unterstützen und als erste Anlaufstelle dienen können. Diese Lots*innen haben in der Regel selbst Flucht- oder Migrationshintergrund mit mehrsprachiger Kompetenz und können somit vielfältige Übersetzungs-, Begleitungs- und Lots*innenfunktion übernehmen. Im Rahmen der Ausbildung können sie in der Anwendung von Screening-Instrumenten sowie der Navigation des Gesundheitssystems geschult werden. Sie können Menschen an relevante Stellen im Gesundheits-, Arbeits- oder Sozialsystem weiterverweisen und/oder zu Ärzt*innen und Anlaufstellen begleiten. Pilotprojekte dieser Form wurden im Zuge der Fluchtbewegung 2015 von der Deutschen Akademie der Wissenschaften angeregt (Leopoldina, 2016; Salman 2015). Ansätze mit positiven Erfahrungen existieren auch in Wien, etwa durch die Caritas und die Volkshilfe sowie das Projekt “CORE - Integration im Zentrum”. Diese gilt es weiterzuführen bzw. auszubauen.
Communitybasierte Kommunikationskänäle ausbauen: In einem community-basierten Ansatz empfiehlt es sich zudem, migrantische Vereine als Vermittler für Gesundheitsinformation und Impfbereitschaft zu gewinnen. Mit den großen Dachverbänden und Vereinen könnte die Stadt Wien eine Info-Kampagne organisieren und in deren Räumlichkeiten zugleich (Booster-)Impfungen ermöglichen.
Ausbau des Kontaktbesuchsdiensts: Wir empfehlen besondere Maßnahmen für ältere Migrant*innen, die eine besonders schwer erreichbare Zielgruppe (sowie gleichzeitig eine Gruppe mit erhöhtem COVID-19-Risiko) sind und häufig auf die sprachliche, digitale und kulturelle Übersetzungsleistung ihrer Kinder und Enkelkinder angewiesen sind. Die aktuelle Situation ist eine gute Gelegenheit, bewährte Strukturen wie den Kontaktbesuchsdienst flächendeckend mehrsprachig sowie auch für (migrantische) Senior*innen, die jünger als 75 Jahre sind, auszuweiten.
Fußnoten
- Siehe auch aktuelle Ergebnisse der EU Statistiken über Einkommen und Lebensbedingungen EU-SILC. https://ec.europa.eu/eurostat/web/microdata/european-union-statistics-on-income-and-living-conditions Siehe auch aktuelle Ergebnisse der EU Statistiken über Einkommen und Lebensbedingungen EU-SILC. https://ec.europa.eu/eurostat/web/microdata/european-union-statistics-on-income-and-living-conditions